Steine erzählen Geschichten

19 alte Grabsteine im Kirchgarten von Nieder-Seemen aufgestellt.

Können Steine Geschichten erzählen? Diesen Eindruck bekommt man im Kirchengarten Nieder-Seemen, wo jetzt 19 Grabsteine aus den Jahren 1715 bis 1845 aufgestellt worden sind. Nicht nur die historische Kirche aus dem frühen 14. Jahrhundert, sondern auch die Grabmale sind Anziehungspunkte auf dieser Bachaue, an der ein VHC-Wanderweg und ein Radweg vorbeiführen.

Aus rotem Sandstein gefertigt, mit Engelsköpfchen und Barock-Ornamenten verziert, geben sie einen Einblick in das Dorfleben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Es ist dem Geschichtsverein Seemental zu verdanken, dass die Inschriften in einem Flyer fast vollständig nachzulesen sind.

Vor allem die Mitglieder Stephan Jäger und Erhard Müth bemühten sich um die Entzifferung und konnten bei den Bibelworten Fehlstellen ergänzen, Horst Bartikowski fügte fehlende Geburts- und Sterbedaten aus Kopien der Kirchenbücher ein, Historikerin Dr. Angela Metzner half bei der Gestaltung.

Einweihung 16.06.2019,

Rätselhafte Inschriften

Zehn der 19 Steine wurden für Kinder und Jugendliche aufgestellt und zeugen von der hohen Kindersterblichkeit in jener Epoche. Die kleine Elisabetha Müller starb im Alter von sieben Monaten. Eltern aus einem anderen Zweig der Familie Müller verloren ihren einzigen Sohn Johann Caspar als Vierjährigen durch einen “Stickfluss”. In der Familie Ruhl erkrankten ein Säugling und ein Vierjähriger an “Friesel und Bösem Halse” , also wahrscheinlich an Diphtherie, und starben innerhalb von vier Tagen. Schicksale, gegen die es im Zeitalter vor Schutzimpfungen und Antibiotika keine Hilfe gab. Manche Inschriften geben Rätsel auf. So ist von einer Harzmühle bei Nieder-Seemen die Rede - eine verschwundene Mühlenfunktion? Das sei irrig, meint Erhard Müth und vermutet, dass es vielleicht eine der Grundherrschaft Stolberg gehörige Mühle war, dass der erste Müller etwa aus dem Familienstammsitz in Wernigerode/Harz kam und sich der Name einbürgerte.
Ein Grab hat ein gusseisernes Kreuz - häufig in städtischen Friedhöfen dieser Epoche zu finden, aber auf Dörfern selten. Es zeigt wohl den Rang der Bestatteten: Johanne Koch war die Witwe eines Ortenberger Amtmanns und starb mit 72 Jahren.
Die Grabsteine stammen alle vom alten Friedhof Nieder-Seemens an der Kefenröder Straße, der 1876 geschlossen wurde. Um 1920 wurden sie an der Wand der Kirche beziehungsweise der Mauer zur Straße hin aufgestellt. Bei der umfassenden Kirchenrenovierung von 1996 bis 2004 wurden sie zwischengelagert. Dirk Winter und Stephan Jäger vom Geschichtsverein hatten schon vor Jahren einige Grabsteine gereinigt, der Wunsch nach Wiederaufstellung wuchs. Der Kirchenvorstand bestimmte dafür den Kirchengarten und übertrug das Projekt 2018 an den Geschichtsverein. Absprachen zwischen Kirchenvorstand, Geschichtsverein, Ortsbeirat und Vertretern der Stadt verliefen übereinstimmend. Schwieriger war die Finanzierung, denn für Transport, Reinigung, Reparaturen und sichere Aufstellung wurden Fachfirmen gebraucht. Doch es fanden sich Unterstützer. Zusammen kamen eine Spende des Gesangvereins, weitere Mittel aus früheren CDU-Grillfesten, aus dem Kirchenvorstand und von einem Geschichtsvereinsmitglied. Müth wandte sich an das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und auch von dort kam ein Zuschuss. Alle Grabsteine wurden von der Fachfirma gereinigt und wo nötig repariert. Eine Infotafel wurde aufgestellt, Flyer formuliert und gedruckt. Zusammen mit Lutz Sauerwein räumte Müth Reste der Aufstellungsarbeiten weg und säte den Platz ein.
Pfarrer Michael Kuhnke hielt den Gottesdienst, den der Landfrauenverein mit Liedern ausgestaltete. In einer Rede dankte Kirchenvorsteherin Astrid Sauerwein für die kostengünstige und optisch überzeugende Lösung - ein professionelles Lapidarium wäre viel zu teuer geworden. Erhard Müth stellte die Geschichte des Projekts dar. Anschließend wurde die Anlage offiziell eingeweiht.

Michael Kuhnke, Astrid Sauerwein, Stephan Jäger, Bürgermeister Guido Kempel und Erhard Müth (von links) während der Einweihungsfeier                                                                                 Foto: Geschichtsverein

Bericht im Gederner Anzeiger am 6. Juni 2019

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